Analysen
COVID-19: ein Fall höherer Gewalt?
30 März 2020

Im Anschluss an das Notstandsgesetz vom 23. März 2020 zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie (Nr. 220-290) wurden, am 25. März 2020, 25 Verordnungen erlassen und im Amtsblatt vom 26. März 2020 veröffentlicht, deren Ziel es ist, das Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsleben an diese Pandemie anzupassen.

Insbesondere das Wirtschaftsleben hat sich verlangsamt bzw. in bestimmten, als nicht wesentlich angesehenen Tätigkeitsbereichen ist es sogar vollkommen zum Erliegen gekommen, was nicht nur schwerwiegende Auswirkungen auf den Cashflow hat, sondern auch Fragen hinsichtlich der Aufrechterhaltung der gewerblichen Tätigkeiten aufwirft.

Einige mögen sich daher fragen, ob sie sich unter diesen Umständen auf einen Fall höherer Gewalt berufen können, um die Auflösung vertraglicher Verpflichtungen zu erreichen, deren Erfüllung nicht mehr möglich ist.   

In diesem Zusammenhang ergingen beispielsweise, im März dieses Jahres, zwei Entscheidungen in Strafsachen, wonach das Nichterscheinen eines Inhaftierten zu einem Verhandlungstermin wegen eines möglichen indirekten Kontakts mit einer Person, welche die Symptome von COVID-19 aufweist, oder wegen des Verdachts, sich mit diesem Virus angesteckt zu haben, als gerechtfertigt angesehen wurde (Berufungsgericht Colmar, 6. Kammer, 12. März 2020, Nr. 20/01098; Berufungsgericht Douai, Kammer für individuelle Freiheiten, 13. März 2020, Nr. 20/00443). 

Das Berufungsgericht Colmar stellt in diesem Zusammenhang fest, dass „diese außergewöhnlichen Umstände … ein Fall höherer Gewalt darstellen, da sie extern, unvorhersehbar und unabwendbar sind …“.

Das Berufungsgericht Douai befand seinerseits, dass diese „Tatsachenelemente unüberwindbare und außergewöhnliche Umstände darstellen“. 

Ende Februar hatte auch der französische Wirtschaftsminister, Bruno Le Maire, darauf hingewiesen, dass das COVID-19 als „Fall höherer Gewalt“ für mit dem Staat abgeschlossene Verträge zu betrachten sei.

Gesetzestexte und Rechtsprechung sehen in diesem Zusammenhang insbesondere Folgendes vor:

  • Gemäß Artikel 1218 des französischen Zivilgesetzbuches (in der ab 1. Oktober 2016 gültigen Fassung): „Höhere Gewalt in Vertragsangelegenheiten liegt vor, wenn ein außerhalb der Kontrolle des Schuldners liegendes Ereignis, das zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vernünftigerweise nicht vorhersehbar war und dessen Auswirkungen nicht durch geeignete Maßnahmen vermieden werden können, die Erfüllung der Verpflichtung durch den Schuldner verhindert.“
  • Gemäß dem alten Artikel 1148 des französischen Zivilgesetzbuches:„Es wird kein Schadenersatz geschuldet, wenn der Schuldner infolge höherer Gewalt oder eines zufälligen Ereignisses daran gehindert wurde, das zu geben oder zu tun, wozu er verpflichtet war, oder wenn er das getan hat, was ihm verboten war.“ 
  • Im Bereich des internationalen Warenkaufs ist auch Artikel 79 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf (UNK) zu erwähnen, welcher Folgendes vorsieht :„Eine Partei hat für die Nichterfüllung einer ihrer Pflichten nicht einzustehen, wenn sie beweist, dass die Nichterfüllung auf einem außerhalb ihres Einflussbereichs liegenden Hinderungsgrund beruht und, dass von ihr vernünftigerweise nicht erwartet werden konnte, den Hinderungsgrund bei Vertragsabschluss in Betracht zu ziehen oder den Hinderungsgrund oder seine Folgen zu vermeiden oder zu überwinden.“
  • Auf Basis der ständigen Rechtsprechung charakterisieren folgende drei Elemente einen Fall höherer Gewalt: Unabwendbarkeit, Exteriorität und Unvorhersehbarkeit.

Nichtsdestotrotz ist daran zu erinnern, dass beispielsweise die H1N1- oder Chikungunya-Epidemie nicht als höhere Gewalt eingestuft worden waren, entweder weil die Gefahr solcher Epidemien oder sogar ihrer möglichen großflächigen Ausbreitung bekannt war oder weil ihre Folgen nicht schwerwiegend genug waren, um als höhere Gewalt mit allen sich daraus ergebenden Folgen qualifiziert zu werden.

Wenn im Anschluss an diese Rechtsprechung zu Epidemien und Pandemien das COVID-19 alleine nicht ausreichen könnte, um einen Fall von höherer Gewalt zu charakterisieren, was hat es dann mit all den Maßnahmen auf sich, die zu seiner Bewältigung ergriffen wurden, wie z.B. die Ausgangssperren auf weltweiter Ebene, zwar mit hier und da unterschiedlichen Vorkehrungen, die aber eindeutig einzigartig in der Geschichte waren, dies mit insbesondere, wie oben erwähnt, einer Verlangsamung bzw. sogar einem Stillstand der Wirtschaft in bestimmten als nicht wesentlich erachteten Tätigkeitsbereichen?

Das ist die entscheidende Frage, wobei die Entscheidung des Berufungsgerichts von Colmar erste Ansätze möglicher Antworten liefert.

In der Tat, vom Berufungsgericht Colmar wurde auch festgestellt, dass „in Anbetracht der für die Entscheidung gesetzten Frist und der Tatsache, dass es innerhalb dieser Frist nicht möglich sein wird, sicherzustellen, dass keine Ansteckungsgefahr besteht und Begleitpersonal zur Verfügung steht, das berechtigt ist, Herrn X zur Anhörung zu bringen. Außerdem hat das CRA … angegeben, dass es nicht über die Ausrüstung verfügt, um Herrn X im Rahmen einer Videokonferenz anzuhören, was bedeutet, dass eine solche Lösung auch nicht für diese Anhörung in Frage kommt“.

Andere Elemente, die mit COVID-19 zusammenhängen und/oder sich daraus ergeben und deren Umsetzung innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens unmöglich war, wurden in der richterlichen Würdigung offensichtlich miteinbezogen.

Wenn die von der Regierung getroffenen Maßnahmen solche anderen mit COVID-19 zusammenhängenden und/oder sich daraus ergebenden Elemente darstellen könnten, um eine Qualifizierung als höhere Gewalt in Betracht zu ziehen, ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich um vorläufige Maßnahmen handelt und die Regierung, insbesondere durch die oben genannten Verordnungen, auch Unterstützungsmaßnahmen eingeführt hat, um die Auswirkungen dieser Maßnahmen zeitlich zu begrenzen.

In diesem Zusammenhang ist insbesondere Artikel 1218 Absatz 2 des französischen Zivilgesetzbuches zu zitieren, in dem es heißt: „Ist das Hindernis vorübergehend, so wird die Erfüllung der Verpflichtung ausgesetzt, es sei denn, die daraus resultierende Verzögerung rechtfertigt die Auflösung des Vertrags. Ist das Hindernis von Dauer, wird der Vertrag von Rechts wegen aufgelöst und die Parteien sind unter den in den Artikeln 1351 und 1351-1 vorgesehenen Bedingungen von ihren Verpflichtungen entbunden.“

Darüber hinaus ist auch nicht zu vergessen, dass die Regeln für die Anwendung von höherer Gewalt dieselben bleiben, unabhängig davon, ob es sich um COVID-19 handelt oder nicht. Der Grundsatz des direkten Zusammenhangs, der zwischen dem Ereignis und seinen Auswirkungen auf den Vertrag bestehen muss, sollte weder unterschätzt noch überschätzt werden, insbesondere je nachdem, ob höhere Gewalt geltend gemacht oder bestritten wird.

In diesem Sinne müssen auch die vertraglichen Bestimmungen, die höhere Gewalt ausschließen, und/oder die, je nachdem wann die Verpflichtungen zeitlich eingegangen wurden, anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen berücksichtigt werden.

Letztendlich wird es immer eine Einzelfallentscheidung bleiben. Beispiel: Eine Fabrik muss ihre Produktionslinien stilllegen und alle ihre Partner kontaktieren, um einen Fall von höherer Gewalt geltend zu machen. Höhere Gewalt kann möglicherweise auf Lieferanten zutreffen, die direkt mit der industriellen Produktionstätigkeit verbunden sind. Gegenüber dem Dienstleister, der die hotline bereitstellt und dessen Tätigkeit von den Produktionslinien abgekoppelt ist, wird diese allerdings keine Relevanz haben. 

In naher Zukunft werden die Richter sicherlich dazu veranlasst werden, von Fall zu Fall und je nach Auswirkung der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zu präzisieren, ob der Begriff der höheren Gewalt festgehalten werden kann, um die Auflösung eines Vertrags von Rechts wegen zu rechtfertigen.


 

Christoph Schödel Partner

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